Vortragstext von Harald Gesell zur Vernissage Ausstellung „Malerei“

Odile Chadelat Bérard und Karlheinz Treiber – Malerei

Als ich vor einigen Wochen von Karlheinz Treiber gefragt wurde, ob ich den Einführungsvortrag für die nächste Vernissage hier in der Rathausgalerie halten würde, ahnte ich nicht, auf was ich mich mit meiner Zusage einlassen würde. Zwar trägt die Ausstellung den schlichten Titel Malerei, aber die schiere Menge von 72 (!) Gemälden, die vom Treppenhaus aus über die Galerie hier bis in den Dachgiebel verteilt sind, ließen in mir bei der ersten Begehung vor 15 Tagen Panik ausbrechen: Wie sollte ich Nicht-Kunsthistoriker dieser überbordenden Fülle Herr werden und meinem Vortrag eine für das Publikum nachvollziehbare Struktur geben?

Der Schalk in meinem Nacken flirtete mit dem Gedanken, Sie alle in den Wahnsinn zu treiben, indem ich auf jedes einzelne Bild eingehen würde, bis Sie völlig ermattet die weiße Fahne hissen würden. Da ich aber von Haus aus Pädagoge bin, habe ich meinen Schalk in die Schranken gewiesen und versucht, einen Wegweiser zu entwickeln, der es Ihnen nachher erlauben wird, die künstlerische Welt unserer beiden heutigen Protagonisten – Odile Chadelat Bérard aus Hirschbergs französischer Partnergemeinde Brignais und der hier ansässige Karlheinz Treiber – auf eigene Faust zu erkunden und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Arbeitsweise und der thematischen Schwerpunktsetzung der beiden Künstler zu erkennen.

Die Bilder dieser Ausstellung umfassen die Themen Natur, Architektur, Porträt und Stillleben (inkl. der drei Agape-Bilder, auf die ich später noch eingehen werde). Als Platzhirsch hat sich Karlheinz Treiber zahlenmäßig zurückgenommen und den 50 Bildern Odile Chadelat Bérards lediglich 22 eigene Motiv-verwandte Arbeiten gegenübergestellt. Wenn man nun die Frechheit besäße, Kunst in Quadratmetern bemalter Fläche zu bemessen und zu bewerten, hat er aber mit seinen oft großformatigen Bildern mindestens einen Gleichstand erzielt.

Auf dem Weg durchs Treppenhaus begegnen einem zuerst Bérards betörende, französisches Flair ausstrahlende Stadtbilder mit romantisch anmutenden Motiven: ein malerischer Brunnen, eine stolze  Reiterstatue oder – beim Betreten dieses Raums gleich links – die Außenansicht einer massiven romanischen und die Innenansicht einer prachtvollen gotischen Kirche, unter deren filigranem Spitzbogen-Gewölbe die eindringenden Sonnenstrahlen ein wahres Farben-Feuerwerk evozieren.

Die Arbeitsweise der Künstlerin ist bei diesen Werken die gleiche: Zuerst wird die Leinwand präpariert, indem z.B. farbige Papierblätter, Silberfolie oder Fotos des jeweiligen Objekts Collage-artig aufgeklebt werden; danach entsteht in Gouache-Technik das eigentliche Bild. (Gouache hat im Gegensatz zu Aquarellfarben größere Pigmentpartikel, sodass die aufgetragene Farbe weniger durchsichtig wirkt.) Der Effekt dieser mehrschrittigen Arbeitsweise ist frappierend: Die Farben ändern auf der collagierten Unterlage ihren Charakter, das Bild wird multiperspektivisch, und es entsteht der Eindruck einer Patina. Diese Technik nennt man Aleatorik (von lat. alea = Würfel, Risiko, Zufall), weil man nicht voraussagen kann, wie das Endergebnis genau aussehen wird.

Während Odile Bérards Architekturbilder den Blick auf atmosphärische und deswegen einladende Altstädte freigeben, ist die Architektur im Werk Treibers modern, geometrisch und ausschnitthaft. Sie steht oft in radikalem Kontrast zur Natur: der rechteckige Swimming Pool inmitten alpiner Bergketten, das innerstädtische Hallenbad, in dessen Wellen sich die Farben der anonymen Großstadtfassade spiegeln und dabei verschwimmen; oder – oben im Dachgiebel – das endzeitlich anmutende Gemälde einer riesigen Halle, in deren Wände sich Feuchtigkeit und Schimmel gefressen haben und wo sich die ansteigende Flut vom Erdgeschoss aus langsam des ganzen Gebäudes bemächtigt. Da bleibt dem Menschen nur noch die Flucht.

Wissenschaftler haben berechnet, wie lange es dauern würde, bis sich die Natur z.B. ein verwaistes New York wieder zurückholen würde: Schon nach 20 Jahren wäre die Stadt mit Pflanzen überwachsen, die Hochhäuser würden immer mehr zerfallen. Als aktuelles Anschauungsobjekt kann wohl der Ort Prypjat in der Nähe von Tschernobyl dienen.

Aber Karlheinz Treiber zeigt auch Natur pur, wie Sie sie hier v.a. in seinen weitgespannten Bergbildern sehen können. Sie dokumentieren Reiseeindrücke des Künstlers aus Anatolien und Tibet, das mit einer durchschnittlichen Höhe von 4500 Metern über dem Meeresspiegel von seinen Bewohnern als „Dach der Welt“ bezeichnet wird. Die majestätischen Landschaften mit ihrem transzendenten Licht scheinen in sich zu ruhen, man bekommt als Betrachter eine Ahnung von der Ewigkeit der Natur, der man als Mensch mit seinem begrenzten Lebensalter demütig gegenübersteht. Diese Gebirge entstanden in den letzten 50 Millionen Jahren der Erdgeschichte, und es wird noch einmal so lange dauern, bis die Erosion sie abgetragen und eingeebnet haben wird. In diese unfassbar lange Zeitspanne ist die Existenz der Menschheit eingebettet, und es wäre ein Leichtes für die Natur, sich unserer Spezies wieder zu entledigen. Treiber deutet dies mit seinem Gemälde „Erdenmund“ an, auf dem sich ein Vulkanausbruch anschickt, die streng geometrischen Strukturen einer menschlichen Siedlung zu zerstören.

Es ist viel Wagner in Treiber, sowohl in den Berg- als auch in den Architekturbildern. Das liegt nicht nur an den Bildtiteln Rheingold und Rheintochter: Die mystisch beleuchteten Berggipfel als Sitz von Wotans Sippschaft, die Wolkenfetzen als symbolisierte Walküren über dem Felsengebirge, die Hochhausfassade, die durch die Glasscheibe des Hallenbades zu sehen ist und ein modernes Walhall darstellt, oder die ansteigenden, alles verschlingenden Fluten des Rheins – ähnliche Bilder waren in den letzten Jahrzehnten als Kulissen für Inszenierungen von Richard Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen zu sehen.

Vor allem bei der Darstellung der Natur geht auch Karlheinz Treiber aleatorisch vor. Allerdings „legt“ er die Grundstimmung auf der Leinwand nicht wie Odile Bérard durch Collagetechnik, sondern durch das Auftragen von Farbe. Die Struktur der Berge, der Ebenen, des Wassers oder von Palmwedeln wird dann mit einem Kamm, einer Drahtbürste oder einer Spachtel herausgearbeitet, wobei man nicht voraussehen kann, wie sich die Farbe bei der Bearbeitung verhält, sodass dem Zufall Raum gegeben wird.

Ähnlich wie Treiber, der als Wanderer in der Natur Eindrücke von Formen und Farben gewinnt und diese dann im Atelier anhand von Fotos verarbeitet, malt auch Bérard – im Gegensatz zu den Impressionisten – nicht en plein air, also unter freiem Himmel, sondern sie setzt ihre Wahrnehmungen, die sie in der Ruhe und Einsamkeit ihres weitläufigen Gartens am Fluss gesammelt hat, in ihrem Atelier in Malerei um.

Dabei entstehen ausschnitthafte Naturbilder, die in ihrem Farbenrausch ihresgleichen suchen. Ob es nun rote Mohnfelder sind, das edle Weiß frühlingshafter, das satte Grün sommerlicher oder das grelle Gelb herbstlicher Baumkronen – die Landschaften laden einen geradezu ein, in sie einzutauchen. Und man möchte mit Faust ausrufen: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein.“

Diese Bilder entstehen auf einer schwarzen Leinwand, angelehnt an eine alte, von einem strengen Katholizismus geprägten spanischen Tradition, die sich auf die ersten Worte der Bibel bezieht:

„Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde;
die Erde aber war wüst und wirr,
Finsternis lag über der Urflut
und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.
Gott sprach: Es werde Licht.
Und es wurde Licht.“  (Gen. 1.1-3)

In diesem Sinn ist es also die Künstlerin, die das Licht quasi „anknipst“ und in einem schöpferischen Akt auf der Grundfarbe Schwarz die helleren Farben entwickelt. Dabei ist es ihre Aufgabe, den erhabenen Moment herauszuschälen, wie es auch Lessing in seiner Schrift „Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerei und Poesie“ aus dem Jahr 1766 sinngemäß so formuliert hat: Während der Dichter eine Geschichte linear vom Anfang bis zum Ende erzähle, müsse der bildende Künstler den „fruchtbaren Augenblick“ finden, in dem eine ganze Geschichte (historia) – oder hier das Wesen einer Landschaft – auf ihre Kernaussage quasi eingedampft (electio) werde.

Besonders eindrucksvoll gelingt dies Odile Bérard in dem kleinen Bild mit dem Titel „Das blaue Fenster“ – mein Lieblingsbild von ihr –, wo die gelb-grüne Fülle der wiedererwachten Natur durch das Fenster in den noch mit toter Natur (nature morte = Stillleben) geschmückten winterlichen Raum quasi einbricht und den Frühling einläutet.

Im Zusammenhang mit der Landschaftsmalerei der Künstlerin möchte ich noch ein Wort zu vier kleinen Enkaustik-Bildern im Dachgiebel rechts verlieren (gr. enkauston = eingebrannt). Es sind Wachsmalereien, die Ihren Oberflächenglanz dadurch erhalten, dass gekochtes Wachs als Bindemittel dient; ein Verfahren, das bis in die ägyptische, griechische und römische Antike zurückreicht, das aber heute kaum noch angewandt wird.


Während die üppigen Stillleben von Odile Bérard oft als interieur naturel den dargestellten Raum schmücken, verwandelt sich der Raum in ihren drei Agape-Bildern im Treppenhaus zu einem Festsaal: Der weiß gedeckte Tisch für das anstehende Festmahl und der in mystisches Licht getauchte Hintergrund des Gemäldes mit dem programmatischen Titel agapes erinnern stark an die Gralsöffnungsszene in Wagners Parsifal, in der– ähnlich wie bei der christlichen Eucharistie – die Gralsritter aus dem Heilskelch gestärkt und beseelt werden, um – wie Lohengrin – danach wieder als Streiter für die ewige Liebe in alle Windrichtungen ausschwärmen zu können. Somit verdeutlicht die Künstlerin die Bedeutung des griechischen Wortes agape, das füreine „von Gott inspirierte uneigennützige Liebe“ steht, wenn sie es als Fest bzw. Fest der Liebe übersetzt.

Anders als bei Bérard sind die beiden Stillleben von Karlheinz Treiber – Das rote Waldvöglein von Neidenstein und Wie die zarten Blumen – von ihrer Umgebung isoliert, sie stehen für sich und sind zu Metaphern für Leben und Tod überhöht. So entstand das Bild Wie die zarten Blumen kurz nachdem der Vater des Künstlers gestorben war. Es zeigt die Blüte einer Orchidee, die nach Aussage von Treiber eigentlich schon verwelkt gewesen sei und durch das Eintauchen des Stiels in das Wasser zu neuem Leben erwacht sei.

Heinrich von Kleist erörtert in seinem 1810 erschienenen Essay Über das Marionettentheater die Frage, welchen Einfluss Reflexion und Bewusstheit auf die natürliche Anmut haben. In dieser philosophischen Abhandlung erklärt ein Tänzer seinem Gesprächspartner, wie die Bewegungen der Puppen ausgeführt werden: Der Marionettenspieler müsse den Schwerpunkt der Puppe „regieren“, die restlichen Glieder folgten dann von selbst. Somit seien die Puppen, die über keinerlei Bewusstsein verfügten, den menschlichen Tänzern, die ihre Bewegungen bewusst ausführten, haushoch überlegen, denn es entstünde für einen Betrachter der Eindruck von Anmut bzw. Grazie. Diese Eigenschaft des In-sich-Ruhens sei nur Kindern und Tieren gegeben, das Bewusstsein von Schönheit, wie es dem erwachsenen, also reflektierten Menschen eigen sei, verderbe die Grazie und gerate zur Pose.

Diesen Gegensatz von Grazie und Pose kann man in den Porträtgemälden beider Künstler entdecken: die Anmut der Schlafenden in Treibers Bild Die Nacht sammelt ihre Kinder und in seiner paradox anmutenden Bild-in-Bild-Komposition The Next Level oder in Bérards Zugabteil – und dagegen die gezierte Pose von deren Begleiterin oder der „Entspannte[n]“ Chinesin in Treibers so betiteltem Werk, weil sie sich eben von der Künstlerin bzw. dem Künstler beobachtet fühlen und eine möglichst gute Figur machen wollen.

Eine ganz andere Botschaft vermitteln die beiden Doppelporträts der Künstlerin mit den Titeln Côte à Côte bzw. The Affair im Dachgiebel: In beiden Werken ist ein Augenblick festgehalten, in dem sich beide Paare eben nicht – vielleicht auch nicht mehr – in die Augen blicken. Der jeweilige Blick der Personen geht ins Leere, die Möglichkeit, in den Augen des Partners als Spiegel der Seele Liebe zu lesen, scheint nicht mehr gegeben. „The thrill is gone“ würde B.B. King dazu intonieren.

Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich auf die beiden Werke hinter mir eingehen, die ja auch den Flyer zur Ausstellung zieren. Zeigen sie doch typische Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Herangehensweise der beiden Künstler auf. Ausgehend von einer ähnlichen Farbigkeit mit den Grundtönen Umbra bzw. Umbraun (lat. für Schatten), Ocker und Gelb entwickeln sich beide Gemälde aus der Dunkelheit ins Licht. Das Format ist jeweils ein Quadrat, das von beiden Malern nach dem Goldenen Schnitt im Verhältnis 1,6 : 1 aufgeteilt ist: Bei Odile Bérard ist die Majorfläche allerdings oben und die Minorfläche unten, bei Karlheinz Treiber ist es umgekehrt. Auch im Blickwinkel unterscheiden sich beide Bilder: Während sich der Betrachter bei Bérard voller Demut in der Natur bewegt – der Titel En promenade suggeriert diesen Spaziergang –, schwebt er bei Treiber über ihr. Gleicht bei der französischen Künstlerin die Landschaft einem Locus amoenus (lat.), also einem lieblichen Ort, zeigt uns Treibers Bild Die Lichtung von Köppelsbleek eine unwirtliche, fast dystopische Landschaft, die vom Menschen in seiner Hybris in Besitz genommen und streng geometrisch gegliedert worden ist. Das Gemälde vermittelt mit seinem kosmischen Licht eine Traumvision, es gleicht einem Erd-Abschiedsbild. Wer Steven Spielbergs Science-Fiction-Film Unheimliche Begegnung der dritten Art aus dem Jahr 1977 mit seiner unvergesslichen sphärischen Tonfolge gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Für die anderen lohnt es sich, dies nachzuholen.

(> Handy) du-du-du-du-du